News Release

Geisterteilchen auf der Waage

Peer-Reviewed Publication

Max-Planck-Institut fur Kernphysik

Der PENTATRAP Aufbau

image: Eine sehr präzise Atomwaage: PENTATRAP besteht aus fünf übereinander angeordneten sogenannten Penningfallen (gelbe Säule in der Mitte). In diesen baugleichen Fallen lassen sich Ionen im angeregten Quantenzustand und im Grundzustand im Vergleich messen. Um Fehler zu minimieren, werden die Ionen für Vergleichsmessungen auch zwischen verschiedenen Fallen hin und her geschoben. view more 

Credit: MPIK

In den 1930er-Jahren zeigte sich, dass beim radioaktiven Betazerfall eines Atomkerns weder die Energie- noch die Impulsbilanz stimmt. Dies führte erst zum Postulat von „Geisterteilchen“, die Energie und Impuls „heimlich“ abtransportieren. 1956 gelang schließlich der experimentelle Nachweis solcher Neutrinos. Die Herausforderung: Neutrinos interagieren mit anderen Materieteilchen nur über die schwache Wechselwirkung, die auch hinter dem Betazerfall eines Atomkerns steckt. Deshalb können auch in jeder Sekunde Hundert Billionen Neutrinos aus dem Kosmos, vor allem der Sonne, durch unseren Körper fliegen, ohne Schaden anzurichten. Nur mit riesigen Detektoren lassen sich extrem seltene Neutrinokollisionen mit anderen Materieteilchen nachweisen.

Sonnenneutrinos brachten eine weitere bahnbrechende Erkenntnis: Die drei Neutrino-Arten, die bis heute bekannt sind, können sich ineinander umwandeln. Diese „Neutrino-Oszillationen“ hatten aber eine gravierende Folge für das Weltbild der Teilchenphysik. Zuvor galt, dass Neutrinos keine Ruhemasse hätten, wie Photonen. Dies wäre kompatibel mit dem Standardmodell der Teilchenphysik, der vorläufig besten Beschreibung der Teilchenwelt. Doch die Oszillationen erzwangen eine Ruhemasse für Neutrinos – ein weiterer Hinweis darauf, dass neue Physik jenseits des Standardmodells existieren muss.

Die genaue Kenntnis der Ruhemasse des Neutrinos wäre also ein Sesam-öffne-dich in die unbekannte Welt neuer Physik. Leider kann man nicht einfach ein Neutrino auf eine Waage legen. Das erfordert äußerst komplexe Experimente an technisch zugänglichen physikalischen Vorgängen mit Neutrino-Beteiligung. „Ein Weg ist der Betazerfall von Tritium“, erklärt Christoph Schweiger, Doktorand in Klaus Blaums Abteilung am Max-Planck-Institut für Kernphysik. Dabei zerfällt eines der beiden Neutronen im superschweren Wasserstoff in ein Proton und sendet ein Elektron sowie ein Neutrino aus, was das Atom in ein in der Bilanz leichteres Helium umwandelt. Diesen Prozess „wiegt“ das KATRIN-Experiment im Karlsruher Institut für Technologie.

„Der komplementäre Weg ist der Elektroneneinfang des künstlichen Isotops Holmium-163“, fährt Schweiger fort. Dabei fängt der Atomkern ein Elektron aus der inneren Elektronenschale ein, wobei sich ein Proton in ein Neutron umwandelt, das Ergebnis ist das Element Dysprosium-163. Dabei wird ebenfalls unter anderem ein Neutrino frei. Die internationale ECHo-Kollaboration, an der die Heidelberger beteiligt sind, versucht, diesen Zerfallsvorgang energetisch extrem genau zu messen. Nach Einsteins E = mc2 sind Masse und Energie äquivalent, folglich kann eine Energiemessung mit dem Wiegen von Massen gleichgesetzt werden. Nach Einsteins E = mc2 sind Masse und Energie äquivalent, folglich kann eine Energiemessung mit dem Wiegen von Massen gleichgesetzt werden. ECHo misst dazu als „Kalorimeter" extrem genau die komplette Energie, die bei diesem Zerfall frei wird: Diese entspricht maximal dem Q-Wert abzüglich der Ruhemasse des freigesetzten Neutrinos. Dazu wird das Holmium-163-Isotop in eine Schicht aus Goldatomen eingebaut.

„Allerdings könnten diese Goldatome einen Einfluss auf das Holmium-163 haben“, erklärt Schweiger: „Deshalb ist es wichtig, den Wert von Q auch auf einem alternativen Weg möglichst präzise zu messen und mit dem kalorimetrisch bestimmten Wert zu vergleichen, um so mögliche systematische Fehlerquellen aufzuspüren.“ Hier kommt das Heidelberger Pentatrap-Experiment ins Spiel und damit Schweigers Doktorarbeit. Pentatrap besteht aus fünf sogenannten Penning-Fallen. In diesen Fallen können elektrisch geladene Atome in einer Kombination aus einem statischen elektrischen und magnetischen Feld gefangen werden. Darin vollführen diese Ionen einen in sich verschraubten „Kreistanz“, über den sich ihre Masse extrem genau bestimmen lässt. „Bei einem maximal beladenen Airbus A-380 könnte man mit dieser Empfindlichkeit feststellen, ob sich ein einzelner Wassertropfen auf ihn gesetzt hat“, macht der Physiker die Fähigkeiten dieser Superwaage anschaulich.

Im Prinzip funktioniert eine Penning-Falle wie eine Schaukel. Wenn man zwei verschieden schwere Kinder auf zwei gleichartige Schaukeln nebeneinandersetzt und gleich stark anschubst, dann beobachtet man allmählich eine Verschiebung der Schaukelfrequenzen. Daraus kann man den Gewichtsunterschied beider Kinder berechnen. Im Fall des Pentatrap-Experiments ist dies der Masseunterschied zwischen einem Holmium-163- und einem Dysprosium-163-Ion. Hinzu kommt: Je schneller beide Kinder schaukeln, desto früher erhält man das Ergebnis, das zudem bei gleicher Beobachtungszeit auch viel genauer als beim langsamen Schaukeln wird. Aus diesem Grund entfernte das Team bei drei verschiedenen Messreihen 38, 39 und 40 Elektronen aus den somit „hochgeladenen“ Ionen, was deren „Kreistanz“ erheblich schneller macht. „Wenn alles klappt, braucht eine Messung dann nur wenige Wochen“, sagt Schweiger.

Aus den Masseunterschieden als Resultat verschiedener Frequenzmessungen konnten die Heidelberger via E = mc2 schließlich einen 50-mal präziseren Q-Wert für den Elektroneneinfang als bislang ermitteln. „Genauso wichtig wie unsere Messung war dabei der Beitrag der drei Theoriegruppen, darunter Christoph Keitels Gruppe hier am Institut“, betont Schweiger. Auf den ermittelten Q-Wert hat nämlich neben dem Frequenzunterschied beider Ionen eine zweite Größe maßgeblichen Einfluss: die Energie, die im übriggebliebenen Elektronensystem eines hochgeladenen Ions gespeichert ist. Da so ein großes Ion ein Vielteilchensystem ist, war die Berechnung entsprechend komplex. Es zeigte sich, dass sich mit den Berechnungen fast exakt gleiche Q-Werte für die drei gemessenen Ladungszustände mit 38, 39 und 40 entfernten Elektronen ergaben. Damit sei klar gewesen, dass sich systematische Unsicherheiten in Experiment und Theorie ausschließen lassen, betont Schweiger begeistert. Und was bedeutet das für die Neutrinomassen?

Die bislang genaueste Obergrenze der Neutrinomasse durch „Wiegen“ ermittelte KATRIN mit 0,8 Elektronenvolt/Lichtgeschwindigkeit2, das entspricht unvorstellbaren 0,0000000000000000000000000000000000014 Kilogramm! Diese Größenordnung von 10-36 entspricht ungefähr dem Gewichtsverhältnis zwischen vier Rosinen und der Sonne.  Und das ist nur eine Obergrenze. Die Analyse der geschätzten Masseverteilung im Universum kommt sogar auf eine deutlich niedrigere Obergrenze der Neutrinomassen von 0,12 Elektronenvolt/Lichtgeschwindigkeit2. „Diese Analyse ist allerdings hochkomplex und hängt vom verwendeten kosmologischen Modell ab“, sagt Schweiger. Auf jeden Fall ist klar: Wer Neutrinos wiegen will, steht vor extremen Herausforderungen am Rande des technisch Möglichen. Vor diesem Hintergrund ist das Heidelberger Ergebnis ein großer Fortschritt auf dem Weg, das Rätsel der Neutrinomassen zu lösen.

(Roland Wengenmayr/MPIK))


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