image: Urkunde aus dem Stiftsarchiv St. Gallen. Datiert auf den 9. März 736. Beschreibt die Schenkung von Grundstücken in Eigeltingen und Neuhausen in der Nähe des Bodensees. Archivierte Dokumente wie dieses geben Aufschluss über die sozialen, wirtschaftlichen und landwirtschaftlichen Praktiken, die im frühen Mittelalter in der Bodenseeregion vorherrschten. view more
Credit: St. Gallen, Stiftsarchiv, IV 345 (Private charter)
Eine zentrale Erkenntnis des Anthropozäns ist die Bedeutung der Biodiversität sowohl für ein funktionierendes Erdsystem, als auch für menschliche Gesellschaften. Aktuelle Trends deuten zwar auf einen globalen Verlust der Biodiversität hin, doch frühere Studien dokumentieren auch Zunahmen der Biodiversität im holozänen Europa. Dies belegt, dass menschliche Gesellschaften die Gesundheit und Resilienz ihrer Umwelt tatsächlich fördern können. Die kulturellen Faktoren, die mit diesen Biodiversitätsanstiegen verbunden sind, sind jedoch bislang weniger erforscht.
Eine in den Proceedings of the National Academy of Sciences veröffentlichte Studie, kombiniert interdisziplinäre Datensätze, um die Ursachen des Biodiversitätswandels im Bodenseeraum im Südwesten Deutschlands, ehemals Teil des Karolingischen Reichs, zu analysieren. Die Forschenden dokumentierten ab etwa 500 n. Chr. einen signifikanten, anhaltenden Anstieg der Pflanzenvielfalt, der in einem 4000-jährigen „Optimum der Pflanzenvielfalt“ um das Jahr 1000 gipfelte. Die Daten weisen darauf hin, dass kulturelle Innovationen in Landwirtschaft, Landbewirtschaftung und Handel während der Entstehung des mittelalterlichen Europas diesen Anstieg förderten.
„Unsere Ergebnisse dokumentieren eine Erfolgsgeschichte der Wechselwirkung zwischen Mensch und Umwelt“, erklärt Adam Izdebski vom Max-Planck-Institut für Geoanthropologie. „Menschliche Gemeinschaften können biodiverse Landschaften fördern und haben dies über lange Zeiträume hinweg bewiesen.“
„Diese Studie liefert Erkenntnisse für politische Entscheidungstragende und Naturschutzexpert:innen“, ergänzt Adam Spitzig von der Universität Stanford. „Unsere Daten legen nahe, dass landwirtschaftliche Systeme mit hohem Naturwert sowie agroökologische Mosaike mit moderater Störung die Pflanzenvielfalt effektiv steigern und gleichzeitig die Nahrungsmittelproduktion sichern können.“
Um zu diesen Erkenntnissen zu gelangen, nutzten die Forschenden paläoökologische und historische Datensätze aus dem Bodenseeraum, einer Region mit außergewöhnlich guter Dokumentation. Die Analyse fossiler Pollen aus sechs Sedimentkernen, kombiniert mit archäobotanischen Funden aus Hunderten Fundstellen, ermöglichte die Rekonstruktion der Pflanzenvielfalt während der letzten 4.000 Jahre. Die Verknüpfung dieser Daten mit historischen Dokumenten aus regionalen Archiven, darunter dem Stiftsarchiv St. Gallen, erlaubte die Identifikation landwirtschaftlicher und handelspolitischer Praktiken, die den Anstieg der Pflanzenvielfalt begünstigten.
Mit dem Übergang der Gesellschaft in das Anthropozän, die Epoche der Menschheit, gewinnen Berichte über positive Wechselwirkungen zwischen Mensch und Erdsystem an Bedeutung. Sie verdeutlichen, dass Gesellschaften Biodiversität und gesunde Landschaften fördern können. Die Forschenden hoffen, dass zukünftige Studien langfristige Biodiversitätsschätzungen mit detaillierten kulturellen Einordnungen verknüpfen werden, um politischen Entscheidungstragenden die Umsetzung wirksamer Maßnahmen im Biodiversitätsmanagement zu ermöglichen.
Journal
Proceedings of the National Academy of Sciences
Article Title
Cultural innovation can increase and maintain biodiversity: A case study from medieval Europe
Article Publication Date
17-Nov-2025