image: Multidimensional nature of aging: phenotypic changes across levels of biological complexity. The figure illustrates time-dependent phenotypic change across molecular, cellular, tissue, and organismal scales in multiple species.
Credit: Dan Ehninger
BONN, DEUTSCHLAND, 2. Dezember 2025 — Eine heute in Genomic Psychiatry veröffentlichte Übersichtsarbeit fordert die Alternsforschung dazu auf, grundlegend zu überdenken, wie biologisches Altern gemessen und verstanden wird. Dr. Dan Ehninger, Leiter des Labors für Translationale Biogerontologie am DZNE, und Dr. Maryam Keshavarz präsentieren eine systematische Analyse, in der sie darlegen, dass verbreitete Surrogatmarker des Alterns – darunter Lebensverlängerung, epigenetische Uhren und Gebrechlichkeitsindizes – ebenso wie das etablierte Konzept der Kennzeichen des Alterns echte Veränderungen von Alterungsverläufen mit einfachen, altersunabhängigen Effekten auf die Physiologie verwechseln könnten.
Das Langlebigkeits-Paradoxon: Länger leben heißt nicht notwendigerweise langsamer altern
Der vielleicht überraschendste Befund der Autoren ergibt sich aus der speziesübergreifenden Analyse der Todesursachen im Alter. Beim Menschen sind kardiovaskuläre Erkrankungen konstant für 35 bis 70 Prozent der Todesfälle im höheren Lebensalter verantwortlich; Autopsiestudien zeigen, dass selbst klinisch gesunde Hundertjährige letztlich an klar identifizierbaren Krankheiten starben – nicht an einem „reinen“ Alterungsprozess. Eine Studie an Personen im Alter von 97 bis 106 Jahren zeigte zudem, dass chronische kardiovaskuläre Erkrankungen bei Hundertjährigen außerordentlich häufig sind. Das unterstreicht, dass extreme Langlebigkeit nur selten ohne spezifische pathologische Prozesse endet.
Zwischen den Spezies verschiebt sich das Muster deutlich: Bei Mäusen dominiert Neoplasie (84–89 % der Todesfälle in mehreren Studien); Hunde zeigen ein vergleichbares Muster, mit fast der Hälfte der Todesfälle älterer Tiere durch Krebs. Nichtmenschliche Primaten ähneln dem Menschen; bei gealterten Rhesusaffen sind kardiovaskuläre Erkrankungen für über 60 Prozent der Todesfälle verantwortlich. Auch Wirbellose weisen artspezifische lebensbegrenzende Faktoren auf: intestinale und neuromuskuläre Störungen bei Drosophila, pharyngeale Degeneration und bakterielle Infektionen bei C. elegans.
„Dieses Muster verdeutlicht, dass Interventionen, die spezifische Pathologien beeinflussen, die Lebensspanne verlängern können, ohne notwendigerweise den Gesamtalterungsprozess zu verlangsamen“, schreiben Ehninger und Keshavarz.
Historische Lektionen aus der epidemiologischen Transition
Die Autoren betonen, dass die massiven Zugewinne der menschlichen Lebenserwartung in den letzten beiden Jahrhunderten primär aus der Reduktion früher Todesursachen – vor allem Infektionskrankheiten – resultierten, nicht aber aus einer fundamentalen Verlangsamung des Alterns. Impfstoffe, Antibiotika und öffentliche Gesundheitsmaßnahmen verschoben lediglich die dominanten Todesursachen, änderten jedoch nicht die biologische Alterungsrate.
Diese historische Perspektive sei entscheidend für die korrekte Interpretation moderner Langlebigkeitsforschung.
Das Uhren-Rätsel: Starke Korrelationen, unklare Kausalität
Epigenetische Alterungsuhren sind wertvolle Instrumente für Stratifizierung und Risikovorhersage, doch die Autoren äußern grundlegende Zweifel daran, was diese Uhren tatsächlich messen:
- Sie beruhen auf Korrelationen, nicht auf kausalen Beziehungen.
- Sie unterscheiden nicht zuverlässig zwischen ursächlichen Alterungsvorgängen und nachgelagerten Konsequenzen.
- Ähnlich wie das Schätzen des Alters anhand eines Gesichtsbildes hochprädiktiv sein kann, ohne die dahinterliegenden Mechanismen zu erklären, erfassen auch Alterungsuhren häufig nur Oberflächenphänomene.
Mendelsche-Randomisierungsstudien zeigen zudem, dass klassische Uhren nicht für kausal relevante CpG-Stellen angereichert sind. Selbst modernere Ansätze wie DunedinPACE beruhen überwiegend auf Biomarkern mit rein phänotypischer Korrelation.
Gebrechlichkeitsindizes: Nützliche, aber begrenzte Surrogate
Gebrechlichkeitsindizes fassen typischerweise wenige semiquantitative Merkmale zusammen – von Fellzustand über Kyphose bis zu Tumorlast. Dies erzeugt:
- eine starke Gewichtung einzelner Pathologien
- mögliche Scheinverbesserungen, wenn lediglich ein dominantes Merkmal reduziert wird
- eine Gefahr der Fehlinterpretation als breiter Anti-Aging-Effekt
Die Kennzeichen des Alterns auf dem Prüfstand: Eine systematische Evidenzanalyse
Die Autoren analysierten alle Primärstudien, die als Evidenz für die zwölf Kennzeichen des Alterns dienen. Die zentrale Erkenntnis:
In 56,86–99,96 % der Fälle wurden die als Beleg angeführten Alterungsphänotypen ausschließlich in gealterten Tieren untersucht.
Wenn junge Kohorten einbezogen wurden, zeigten 72,4 % der Phänotypen bereits bei jungen Tieren Effekte – ein Hinweis auf Basiseffekte statt Rateneffekte.
„Die Evidenz, die für die meisten Kennzeichen zitiert wird, spricht in erster Linie für allgemeine physiologische Effekte und nicht für genuine Anti-Aging-Mechanismen“, resümieren die Autoren.
Basiseffekte vs. Rateneffekte: Ein methodischer Ansatz
Die Autoren schlagen eine klare Unterscheidung vor:
- Rateneffekt: Interventionswirkung verändert die Steigung altersabhängiger Veränderungen.
- Basiseffekt: ähnliche Veränderung in jungen und alten Tieren → altersunabhängige Verschiebung.
- Gemischter Effekt: kombinierte Mechanismen oder unterschiedliche Expositionszeiten.
Sogar Pro-Langlebigkeits-Interventionen wie Rapamycin, intermittierendes Fasten oder mTOR-Manipulationen zeigen in umfassenden phänotypischen Analysen überwiegend Basiseffekte, nicht echte Veränderungen der Alterungsrate.
Offene Fragen der Alternsforschung
Die Synthese benennt zentrale ungelöste Probleme:
- Warum altern Gewebe unterschiedlich schnell?
- Wie stark wird Altern systemisch vs. zellautonom gesteuert?
- Wie verlässlich sind Tiermodelle angesichts divergierender Todesursachen?
- Wie lassen sich gewebespezifische Alterungsverläufe über Arten hinweg vergleichen?
Implikationen für Translation und Wirkstoffentwicklung
Wenn biomarkerbasierte Indikatoren Basiseffekte mit einer echten Modulation des Alterns verwechseln, drohen:
- Fehlinvestitionen
- überinterpretierte Interventionswirkungen
- suboptimal geplante klinische Studien
Eine Intervention, die die allgemeine kognitive Leistungsfähigkeit verbessert, greift erst dann wirklich in das kognitive Altern ein, wenn sie nachweislich auch die Rate des altersbedingten Abbaus verlangsamt.
Praktische Empfehlungen der Autoren
- Aufbau standardisierter, gewebeübergreifender Sets alterssensitiver Phänotypen
- Studien mit jungen und alten behandelten Kohorten
- Systematische Klassifikation in Basis-, Raten- oder gemischte Effekte
- Präzise Wahl von Bewertungszeitpunkten
- Zurückhaltung bei Aussagen über systemische Effekte ohne breit angelegte Evidenz
Die Autoren
Dr. Dan Ehninger leitet das Labor für Translationale Biogerontologie am DZNE.
Dr. Maryam Keshavarz führte die systematische Literaturanalyse durch.
Gefördert wurde die Arbeit durch das EU-Projektkonsortium ETERNITY (Horizon Europe MSCA Doctoral Networks, Fördernummer 101072759).
Zitation
Keshavarz M, Ehninger D. Beyond the hallmarks of aging: Rethinking what aging is and how we measure it. Genomic Psychiatry. 2025. DOI: 10.61373/gp025w.0119.
Epub: 2. Dezember 2025.
Open Access
Die Thought Leaders Invited Review ist ab dem 2. Dezember 2025 frei zugänglich über:
https://doi.org/10.61373/gp025w.0119
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Journal
Genomic Psychiatry
Method of Research
Literature review
Subject of Research
People
Article Title
Beyond the hallmarks of aging: Rethinking what aging is and how we measure it
Article Publication Date
2-Dec-2025
COI Statement
The authors declared that they have no conflict of interest.