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Was hat die Erfindung von Militärtechnologien vorangetrieben?

Ein umfassender historischer Datensatz in Kombination mit innovativen Methoden der Datenverarbeitung, entwickelt am Complexity Science Hub Vienna, werfen ein neues Licht auf die Entstehung von Waffen, Rüstungen und Befestigungsanlagen.

Peer-Reviewed Publication

Complexity Science Hub

Assyrischer Reiterkrieger

image: Die Erfingund von Trense und Zaumzeug machte bewaffnete berittene Krieger erst möglich. Das Relief zeigt einen assyrischen Kämpfer im 8. Jahrhundert vor Christus. view more 

Credit: britishmuseumassyrianrelieftwohorsemennimrud.jpg

[Wien, 20. Oktober 2021]  Peter Turchin vom Complexity Science Hub Vienna (CSH) und ein interdisziplinäres Team von Kolleginnen und Kollegen untersuchten verschiedene Theorien über die Entwicklung von Kriegstechnologie im Laufe der frühen Menschheitsgeschichte. Den stärksten Einfluss auf die Militärtechnologie hatten ihren Berechnungen nach die Größe der Weltbevölkerung, die Vernetzung geografischer Regionen sowie Fortschritte bei kritischen Technologien wie der Eisenbearbeitung oder beim Reiten. Umgekehrt – und etwas überraschend – scheinen Faktoren auf Staaten-Ebene, wie die Größe der Bevölkerung oder des Territoriums oder die Komplexität der Regierungsführung, keine große Rolle gespielt zu haben. Die Studie erscheint heute in der Fachzeitschrift PLOS ONE.

Big Data für historische Fragen nutzen

„Mit dieser Arbeit verfolgen wir zwei Ziele“, erklärt Studienleiter Peter Turchin. „Erstens wollten wir ein klares Bild zeichnen, wo und wann militärische Technologien in vorindustriellen Gesellschaften aufgetaucht sind. Und wir wollten herausfinden, weshalb wichtige Technologien an bestimmten Orten entwickelt oder übernommen wurden.“

Als Grundlage für ihre Analysen nutzten die Forscherinnen und Forscher eine umfassende und ständig wachsende Sammlung historischer und archäologischer Daten aus der ganzen Welt: die Seshat: Global History Databank. Derzeit umfasst Seshat rund 200.000 Einträge aus mehr als 500 Gesellschaften und umspannt 10.000 Jahre Menschheitsgeschichte.

„Seshat ist eine Goldgrube für die Erforschung der kulturellen Evolution“, so Turchin, der die Datenbank zusammen mit einem Team aus Anthropolog:innen, Historiker:innen, Archäolog:innen, Mathematiker:innen, Informatiker:innen und Evolutionswissenschaftler:innen initiiert und weiterentwickelt hat.

Um mit den Daten sinnvoll arbeiten zu können, entwickeln und verwenden die Wissenschaftler:innen innovative quantitative Methoden der mathematischen Modellierung und statistischen Analyse.

Trense und Zaumzeug stehen am Anfang von Mega-Imperien

Laut Turchin, der in dieser Studie für die Datenauswertung zuständig war, hatten einige militärische Erfindungen kaskadenartige Auswirkungen auf die kulturelle und soziale Evolution. „Die Erfindung von Trense und Zaumzeug zum Beispiel erleichterte die Nutzung von Pferden, was zu Fortschritten bei Waffen, zur Entwicklung von berittenen Bogenschützen und Rittern führte. Das wiederum machte den Bau besserer Befestigungsanlagen erforderlich. Unserer Studie zufolge war dieses Bündel von Militärtechnologien tatsächlich einer der wichtigsten Treiber für die Entstehung von Mega-Imperien – und von Weltreligionen wie Christentum, Buddhismus und Islam – im ersten Jahrtausend v. Chr.“

Mega-Imperium wird hier definiert als Gesellschaft mit Dutzenden Millionen Menschen und einer Fläche von mehreren Millionen Quadratkilometern, wie sie sich in verschiedenen Teilen Europas und Asiens infolge eines Prozesses wachsender sozialer Komplexität entwickelt hat. Laut Turchin und Team wurde dieser Prozess angetrieben durch den Austausch und den Wettbewerb zwischen Staaten mit zunehmend fortschrittlicher und gefährlicher Technologie.

Die Studie findet auch deutliche Hinweise auf die Wichtigkeit der landwirtschaftlichen Produktivität. „Ein gewisser Umfang in der Nahrungsmittelproduktion scheint für die spätere Entwicklung neuer Kriegstechnologien notwendig gewesen zu sein“, so Koautor Dan Hoyer, der die Datenerhebung im Seshat-Projekt leitet und organisiert. „Es wäre eine spannende nächste Forschungsfrage, herauszufinden, welche Rolle die Landwirtschaft im Prozess der Militärtechnologie-Entwicklung gespielt hat.“  

Fragen an die Vergangenheit für unsere Zukunft

Seshat wurde entwickelt, um bei Theorien der sozialen Evolution zwischen Ursache und Wirkung zu unterscheiden.

„Gute Daten und Methoden, wie wir sie hier entwickeln, eröffnen neue Perspektiven auf eine Vielzahl offener Fragen, Theorien und auch Kontroversen verschiedener Disziplinen, von der Archäologie über die Geschichte bis hin zu den Sozialwissenschaften“, betont CSH-Komplexitätsforscher Turchin. Darüber hinaus könnten Studien wie diese aber auch zu einem allgemeinen Verständnis dessen beitragen, was eine Gesellschaft florieren lässt – oder wie man möglichst früh Zeichen von Verfall und drohendem Kollaps erkennt.

„Ein grundlegendes Verständnis gesellschaftlicher Dynamiken ist nicht nur von akademischem Interesse“, so Turchin, der mit einem Team am CSH zu Social Complexity and Collapse arbeitet. „Zu wissen, was sozialen Wandel antreibt, und Tipping-Points zu erkennen, also gesellschaftliche Kipppunkte, die entweder resiliente Gesellschaften hervorbringen oder aber in eine Katastrophe münden, ist für uns alle – gerade heute – von entscheidender Bedeutung.“

 

Quellen:

Peter Turchin, Daniel Hoyer, Andrey Korotayev, Nikolay Kradin, Sergey Nefedov, Gary Feinman, Jill Levine, Jenny Reddish, Enrico Cioni, Chelsea Thorpe, James S. Bennett, Pieter Francois, Harvey Whitehouse, Rise of the War Machines: Charting the Evolution of Military Technologies from the Neolithic to the Industrial Revolution, PLOS ONE (Oct 20) 2021 https://journals.plos.org/plosone/article?id=10.1371/journal.pone.0258161

Seshat: Global History Databank

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About the Complexity Science Hub Vienna

The mission of CSH Vienna is to host, educate, and inspire complex systems scientists dedicated to making sense of Big Data to boost science and society. Scientists at the CSH develop methods for the scientific, quantitative, and predictive understanding of complex systems. Focal areas include the resilience and efficiency of socio-economic and ecological systems, network medicine, the dynamics of innovation, and the science of cities.

The Hub is a joint initiative of AIT Austrian Institute of Technology, Central European University CEU, Danube University Krems, Graz University of Technology, IIASA International Institute for Applied Systems Analysis, IMBA, Medical University of Vienna, TU Wien, VetMedUni Vienna, Vienna University of Economics and Business, and Austrian Economic Chambers (WKO). http://www.csh.ac.at

 

 


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